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Exkursion nach Auschwitz
Der Versuch, das Unfassbare fassbar zu machen
Schülerinnen und Schüler der Gerhart-Hauptmann-Schule und der Werner-Heisenberg-Schule
in Rüsselsheim reisen gemeinsam nach Auschwitz
„Arbeit macht frei“ - die Aufschrift, die in schwarzen Lettern über dem Eingangstor zum
Konzentrationslager Auschwitz prangt, hat sich in das kollektive Bewusstsein der Menschheit
eingebrannt. Die meisten Menschen jedoch kennen jene Aufschrift nur aus Geschichtsbüchern
oder Dokumentationen. Eine Auswahl von 30 Schülerinnen und Schülern der Gerhart-Hauptmann-Schule
und der Werner-Heisenberg-Schule jedoch hatten nun, während einer fünftägigen Exkursion nach Polen,
die einzigartige Chance, gemeinsam mit ihren Lehrkräften, Herrn Zgierski, Frau Hundt und Herrn Bernecker-Lauter,
die Gedenkstätte zu besuchen.
Doch bevor die Gruppe gemeinsam jenes Eingangstor durchschreiten darf, läuft sie entlang einer grauen,
leicht ansteigenden Betonrampe, die sie zum Areal vor dem ehemaligen KZ-Stammlager führt - rechts und links
begrenzen nackte Betonwände den Weg des Besucherstroms. In diesem bedrückenden Gang, wo jeder einzelne auf
sich geworfen den Blick nach vorne richtet, erfasst das Ohr eine Endlosschleife kaum hörbarer Namen: Es sind
die Namen derer, die dort, an diesem verhängnisvollen Ort vor allem deutscher Geschichte, dem Vernichtungslager
Auschwitz, ihr Leben lassen mussten.
Begleitet von ihrem Tourguide, Piotr, erschließen die Schülerinnen und Schüler der Gerhart Hauptmann-Schule
und der Werner-Heisenberg-Schule die Gedenkstätte, lassen elektrifizierten Stacheldrahtzäune, karge Baracken,
verwaiste Latrinen und leere Stockbetten stumm auf sich wirken, durchschreiten eine Gaskammer in bedrückender Stille.
Gebannt lauschen die Lernenden auf diesem Weg dem Vortrag Piotrs und stellen ihm jene Fragen, die ihnen an diesem Ort,
wo Geschichte unmittelbar auf sie einwirkt, auf der Seele brennen. An keinem anderen Ort, so scheint es, kann das Grauen
dieser Zeit so erfahr- oder greifbar gemacht werden, wie an diesem.
So stehen die Zehntklässler und Oberstufenschülerinnen und -schüler gemeinsam da und, so sagen sie, spüren hinein in sich,
um das Unfassbare an diesem Ort irgendwie erfassen zu können. Besonders erschüttert, so erzählt Dounia am Abend bei der
gemeinsamen Reflexionsrunde mit ihren Lehrkräften in der internationalen Jugendbegegnungsstätte von Oświęcim, haben sie
jene Räume, wo Schuhe der Deportierten scheinbar wahllos aufeinander geworfen worden sind oder die Haare kahlgeschorener
Frauen in endlosen Wellen hinter Vitrinen liegen und als stumme Zeitzeugen an das Schicksal jener erinnert, die in Auschwitz
zu Tode kamen. „Diese gemeinsamen abendlichen Runden sind unerlässlich“, erklärt Herr Zgierski, „da die Schülerinnen und
Schüler hier nicht nur die Gelegenheit zum gemeinsamen Austausch, sondern auch zum Verarbeiten erhalten. Man kann die jungen
Menschen mit diesen Eindrücken nicht alleine lassen“, so der Pädagoge, der die Exkursion organisiert hatte.
Der zweite Tag führte die Gruppe in das Konzentrationslager Ausschwitz-Birkenau, wo Piotr wieder auf sie wartet. Die unfassbare
Größe des Areals, die schier endlos wirkende Anzahl gleichförmiger Holzbaracken und die sogenannte „Judenrampe“, wo die
Neuankömmlinge einst selektiert wurden, und der einsame, leere Güterwagon erschüttern die Lernenden an diesem sonnigen Tag,
der so gar keinen Weichzeichner bieten kann. Im Nachgang, bei allabendlicher Runde, beschreibt GHS-Schülerin Leah diesen Moment
als besonders eindringlich. Die Baracken, die ursprünglich für 51 Pferde gedacht worden seien und wo, statt Tieren, ein Vielfaches
an Deportierten eingepfercht leben und schlafen mussten, verdeutlichten ganz besonders, so die Schülerin, wie die Nazis die Häftlinge
wie Tiere, nicht wie Menschen behandelt hätten und sahen.
Unbestritten bleibt der Besuch der beiden Stammlager bei einer Reise nach Oświęcim der eigentliche Kern der Exkursion.
Doch auch eine Stadtführung gehört zum vielseitigen Programm dazu. Gemeinsam erkundet die Gruppe aus Rüsselsheim die kleine
polnische Stadt und lernt so ihre vielfältige Geschichte kennen, besucht dabei auch die letzte Synagoge des Ortes.
Einen weiteren eindrucksvollen Programmpunkt stellt an diesem Tag der Ausstellungsbesuch des Zyklus „Birkenau“ von Gerhard Richter
aus dem Jahre 2014 dar. Vermittelt diese Bilderfolge den Lernenden nicht weniger beeindruckend, dass Zugänge zu den Gräueltaten der
Nationalsozialisten vielfältig sein und dass die Auseinandersetzung und Verarbeitung ganz unterschiedliche Ausdrucksformen finden können.
Am nächsten Tag dann nähern sich die Jugendlichen in unterschiedlichen Workshops der Jugendbegegnungsstätte dem Einzelschicksal
zweier Mädchen, die mit Mut und Durchsetzungskraft überlebten und mit den Skizzen deportierter Künstlerinnen und Künstler. Besonders
ausdrucksstark empfinden die Lernenden dabei die eines unbekannten KZ-Häftlings, der den Alltag und die Routinen im KZ auf seinem
Skizzenblock festgehalten hat. Der Nachwelt erhalten blieben diese Skizzen nur, da der unbekannte Maler sie in einer Flasche im Fundament
einer Baracke versteckte. GHS-Schülerin Niobe ist von diesen so angetan, dass sie ein Buch mit den abgedruckten Skizzen mit Nachhause nimmt.
Zum Abschluss führt die Schülerinnen und Schüler ein Kurzbesuch in die Stadt Krakau, wo ganz andere Höhepunkte wie die pittoreske Innenstadt,
die Burg Wawel oder die Fabrik Oskar Schindlers auf sie warten. Mit den in diesem Spannungsfeld gewonnenen Eindrücken reisen die 30 Schülerinnen
und Schüler am Ende der Woche dann mit ihren Lehrkräften zurück nach Rüsselsheim. Nach zwölf Stunden Fahrt kommen sie sicher wieder Zuhause an
und sind dankbar für ihre vielfältigen Eindrücke, die sie in ihre Klassen und die Schulen zurückspülen werden. Es überrascht daher kaum, dass
Herr Zgierski, Lehrer für Gesellschaftslehre an der Gerhart-Hauptmann-Schule, schon jetzt erste Anfragen erhalten hat, ob die Gerhart-Hauptmann-Schule
auch im kommenden Schuljahr wieder nach Auschwitz reisen werde, um die Erinnerung wachzuhalten - damit Vergleichbares nie wieder geschehen möge.
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